10 Gründe, warum ich DIE LINKE endlich verlasse

Ja. Ich mach’s jetzt. Ich verlasse DIE LINKE, der ich seit dem Gründungstag am 16. Juni 2007 angehöre. Wahrscheinlich ist es schon viel zu spät für diesen Schritt. Ich stehe für eine emanzipatorische Politik, die sich an die Seite aller Diskriminierten, Angegriffenen, Bedrohten und Verfolgten stellt, die sich als antifaschistisch und feministisch versteht, die die kapitalistische Wirtschaftsordnung überwinden, den Klimawandel bekämpfen und das Ziel eines gute Lebens für alle als Kern ihres Handelns begreifen will. Ich kann meine eigenen politischen Positionen in wesentlichen, vor allem den öffentlich wahrgenommenen Teilen dieser Partei immer weniger wieder finden.

1. Offene Grenzen, Integration und Asyl

Bereits 2005 sprach Oskar Lafontaine als WASG-Funktionär davon, man sei „verpflichtet zu verhindern, dass Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen“ und blies offen ins Horn von Rassisten und Nationalisten. Ab 2015 polemisierte Sahra Wagenknecht und andere gegen demokratisch beschlossene Grundsätze des linken Parteiprogramms, als sie in Zusammenhang mit der hohen Zahl Geflüchteter von „verwirktem Gastrecht“ und Obergrenzen für Geflüchtete schwadronierte. Immer wieder adressiert sie Ressentiments, chauvinistische Einstellungen, offenbarte einen Hang zum Nationalismus.

Die Chance für die Partei, sich im Sommer 2015 als verlässlicher Partner der unzähligen Menschen und Initiativen, die sich für Geflüchtete engagierten und Solidarität zeigten, zu etablieren, wurde verspielt.

Vor der Bundestagswahl 2017 forderte Lafontaine erneut einen Kurswechsel in der Linkspartei, indem er sich für Abschiebungen von Flüchtlingen aussprach. Die Linke, so Lafontaine, müsse reflektieren, „warum so viele Arbeiter und Arbeitslose die AfD wählen“ würden. Nach der Bundestagswahl 2017 griff Lafontaine die Vorsitzenden Kipping und Riexinger öffentlich an. Die „verfehlte Flüchtlingspolitik“ sei „der Schlüssel für die mangelnde Unterstützung“ durch jene, „die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden“.

Der Bundestagswahlkampf 2017 war dann jener, in dem ich vielfach am Wahlkampfstand Bürgern erklären durfte, dass es nicht stimmt, dass „die Linken jetzt auch gegen die Asylanten“ seien. Es war die Zeit, in der auch mir gegenüber viele engagierte Menschen aus Bündnissen und Initiativen klar machten, dass diese Linke keine Option mehr für sie sei. Und das hält bis heute an. Die permanenten Angriffe auf linke Grundsätze verfangen, auch und vor allem bei älteren Mitgliedern der Partei. Die Gegensätze wurden verschärft, die Grenzen verhärtet, eine Entwicklung hin zu einer progressiven, emanzipatorischen Partei nachhaltig verhindert.

2016 – „Torten für Menschenfeinde“ – Screenshot welt.de

Ich zähle die Tage, wann Wagenknecht gegen Geflüchtete aus der Ukraine polemisiert. Man lässt Sie, widerspricht halbherzig, schwadroniert von Zusammenhalt, geht dem Konflikt aus dem Weg. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

2. Aufstehen

Nachdem Wagenknecht und ihr Umfeld erfolgreich die Verankerung der Partei in linken, außerparlamentarischen Bewegungen torpedierte, folgte 2018 die eigene, außerparlamentarische Sammlungsbewegung. Offenkundig war auch da ein wesentlicher Teil der Motivation, die demokratisch gefassten Beschlüsse der Partei zu den Themen offene Grenzen und Integration zu kippen. Das Projekt richtete sich „gegen die herrschende Linie bei Grünen, SPD und Linken“ und wollte Wähler der AfD zurückzugewinnen. Aufstehen-Gründungsvorstand Bernd Stegemann sprach sich gegen eine „wohlmeinende bürgerliche Klasse“ aus, die „mit Rührung auf das Elend der Welt“ blicke, dabei blind sei für die sozialen Nöte im eigenen Land, den Konkurrenzdruck, der sich durch Zuwanderung im eigenen Land ergebe, und der es nur um die „die Sprachregelungen der Political Correctness“ gehe.

Diese sogenannte Sammlungsbewegung von oben war aus meiner Sicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Sie war rückwärtsgewandt, bewusst anschlussfähig nach rechts und ein offener Angriff auf die Grundsätze der Linken. Auch Rechts außen wurde dieser Versuch begrüßt, nicht weil man sich mit Aufstehen einig war, sondern weil man erkannte, dass dies den Diskurs verschiebt. Zu Gunsten von AfD und neuer Rechter. Nachdem sich das Scheitern der „Bewegung“ abzeichnete, zog sich Wagenknecht schnell und leise zurück, die Parteiführung zog erneut keine Konsequenzen.

3. Querfront

Ein weiteres, beständiges Problem der Linken sind aus meiner Sicht die immer wieder auftretenden Querfront-Aktivitäten durchaus prominenter Vertreter. Neben der offenkundigen Anschlussfähigkeit des Wagenknecht-Lagers nach weit Rechts waren es z.B. die sogenannten „Friedensmahnwachen“ ab 2014. Der damalige linke Bundestagsabgeordnete Dieter Dehm verbreitete in trauter Eintracht mit dem Verschwörungsideologen Ken Jebsen Tiraden mit antisemitischen Untertönen und Hass auf die USA. Zwanzigjährige mit Guy-Fawkes-Masken standen neben Parteikommunisten im Rentenalter, NPD-Kader unterhielten sich mit Esoterikern und Hippies über die „Neue Weltordnung“. Im Weltbild der Mahnwachen-Mehrheit sind die USA, die EU und auch damals, nach der Annektion der Krim, die Ukraine die Aggressoren. Putins Russland ist das unschuldige Opfer. Die Ukrainer sind fast alle Nazis. Schon 2014 wohlgemerkt. Die Wahnwichtel-Veranstaltungen können als Vorläufer und Wegbereiter für die klar rechtsextreme Pegida-Bewegung gewertet werden. Auch stramm rechte Figuren wie Jürgen Elsässer waren von Anfang an dabei. Für die damalige Parteigröße Oskar Lafontaine gibt es eine Querfront gar nicht. Dieser Begriff stamme aus dem „Arsenal der Geheimdienste“. Welche Geheimdienste dahinter stecken sollen, hat der Ex-Linken-Politiker, der die Welt von einer „geheimen Weltregierung“ beherrscht sieht, natürlich nicht mitgeteilt. Der Partei gelang es nicht, sich klar und eindeutig von den „Querfrontlern“ in und außerhalb der Partei zu distanzieren. Nicht wenige Parteimitglieder sympathisierten mit den Wahnwichteln der Mahnwachen, nicht wenige sind mit einigen Teilen dieser Bewegung weiterhin aktiv – in den verknöcherten Strukturen einer orthodoxen Friedensbewegung.

Ein für mich sehr eindrückliches Beispiel für die unerträglichen Querfront-Schwurbler in und nahe der Partei durfte ich 2016 bei der großen Demo gegen das TTIP-Abkommen miterleben. In einem von der Linken organisierten Bus saßen Menschen, die lobend über den Antisemiten Daniele Ganser schwadronierten und Plakate des damaligen US-Präsident Obama dargestellt als Satan mitführten. Ich schloss mich auf der Demo lieber einer Antifa-Gruppe an, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Deutschland-Fahnen einzusammeln, anstatt im Linken Block mit zu laufen. Auch damals: keine Distanzierung, keine Aufarbeitung seitens der Partei.

4. Corona

Kurz zusammengefasst: Die Querfront ist zurück. Die protest- und organisationserfahrenen Figuren aus Pegida, NPD und anderen, klar rechtsextremen Bewegungen rund um die asylfeindlichen Kundgebungen ab 2015 organisierten die meisten der Demonstrationen und Aufmärsche im Osten ab 2020, Reichsbürger, Verschwörungsgläubige auch aus dem Mahnwachenumfeld und die neueren, westdeutsch und esoterisch geprägten „Querdenker“ fanden sich zusammen unter einem Konsens, der mindestens die Pandemie leugnete und daraus ableitete, dass geheime, böse Mächte wenigstens die Unterdrückung, wenn nicht gar die Auslöschung des „deutschen Volkes“ vorbereiteten. Struktureller Antisemitismus gehört zum Standardrepertoire. Und Figuren wie Dieter Dehm wieder mit dabei.

Das Kernproblem ist aus meiner Sicht auch nicht allein, dass dort Rechtsextreme, Neonazis und Antisemiten teilnehmen. In weiten Teilen wenden sich Menschen von rationalem Denken, von Wissenschaft und Wahrheit ab und machen sich damit verfügbar für weitere Mobilisierungen. Wir verlieren viele Menschen für jeden demokratischen Diskurs. Die Gefahr, die von Verschwörungsgläubigen ausgeht, auch und gerade wenn diese sich selbst als Links begreifen, wird vielfach ignoriert oder relativiert.

Auch hier fehlte bei nicht wenigen, linken Protagonisten der Wille sich klar abzugrenzen. Und wieder ist es in erster Reihe Wagenknecht, die Corona und Long-Covid tendenziell verharmloste, Verständnis für die Demonstrationen äußerte, von „berechtigten Sorgen“ sprach und die Impfskepsis befeuerte. Im Ergebnis wurden die sogenannten „Spaziergänge“ auch hier von einigen verharmlost und Verständnis geäußert.

5. Linke MeToo

Was soll man dazu noch sagen. Betroffene wurden nicht ernst genommen, Vorfälle wurden kleingeredet oder geleugnet, Täter sind noch immer in wichtigen Positionen. Dem Grundsatz zu allererst den Opfern zuzuhören, ihre Äußerungen ernst zu nehmen, Schutz zu bieten wird nur unzureichend gefolgt. Es geht hier um ein strukturelles Problem und keine Serie von Einzelfällen.

Die Linke hat den Anspruch formuliert, eine feministische Partei zu sein, ist aber (wie andere Parteien und Organisationen auch) weit davon entfernt, diesem Anspruch auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Geraune, Getuschel und abfällige Bemerkungen, wenn sich Betroffene äußern, das Infragestellen von Institutionen wie dem Frauenplenum, Verweigerung gegenüber gendergerechter Sprache, all das gehört zum Alltag in sämtlichen Ebenen der Partei, die noch immer stark männerdominiert ist.

Zahlreiche junge, engagierte Menschen haben die Partei wegen des katastrophalen Umgangs mit dem Thema verlassen. Und ich kann es ihnen nicht verdenken.

6. „linke“ Außenpolitik

Die Liste von unsäglichen Äußerungen zu außenpolitischen Fragen ist lang und die leider weit verbreitete Grundhaltung innerhalb der Linken, die einem veralteten Antiimperialismus entspringt, ist eigentlich nur noch peinlich. Mindestens. In aller Regel tragen die USA an allem die Schuld. Das Gerede von einer „neuen, europäischen Sichheitsarchitktur“ jenseits der NATO verkam zunehmend zur hohlen Phrase, deren Inhalt sich in den Köpfen vieler Mitglieder auf „mit Russland gegen die USA“ reduzierte. Diese Haltung zieht sich wie ein roter Faden durch die Äußerungen zahlreicher, prominenter Mitglieder. Nicht selten äußern Mitglieder der Partei auch antisemitische oder zumindest antizionistische Weltbilder.

Ein paar Beispiele: Nach der Rede des israelischen Präsidenten Schimon Peres vor dem Bundestag am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus 2010 waren es die Abgeordneten Sevim Dagdelen, Sahra Wagenknecht und Christine Buchholz, die sich nicht dem stehenden Applaus der übrigen Abgeordneten anschlossen. Ein bewusst herbeigeführter Eklat, begründet mit antizionistischen Einstellungen. Nachdem 2011 der Landesverband Bremen die antisemitische BDS-Kampagne unterstützt hatte, unterzeichneten bundesweit zahlreiche Parteimitglieder eine Stellungnahme dagegen. Die Fraktion Die Linke im Bundestag beschloss einstimmig, sie lehne Boykottaufrufe und Aufrufe zu einer Einstaatenlösung ab. Die Einstimmigkeit kam nur dadurch zustande, dass Abgeordnete wie Christine Buchholz und 14 (!) andere Fraktionsmitglieder der Abstimmung fernblieben oder zuvor den Sitzungssaal verließen. Von den offenen Sympathien einiger Mandatsträger und Funktionäre mit den Islamisten von Hamas und Hisbollah mal ganz zu schweigen. 2012 – das Regime im Iran baut an der Atombombe, es bedroht die Existenz Israels und unterdrückt die eigene Bevölkerung. Auch das Regime in Syrien zeigt sich immer offener als menschenverachtende Diktatur. Aber macht ja nichts, die Linkspartei-Abgeordnete Sevim Dagdelen fordert dennoch, die Embargomaßnahmen gegen den Iran und Syrien bedingungslos und sofort aufzuheben, und spricht von der Aggression durch USA und Nato.

Russland. Die schiere Anzahl der sogenannten Putin-Versteher, die frenetische Realitätsverweigerung wesentlicher Teile der Partei, all das ist bekannt und muss hier eigentlich nicht weiter ausgeführt werden. Ich machs trotzdem, weil es mich echt aufregt.

Die russische Führung folgt inzwischen einer totalitären Ideologie. Die Ablehnung liberaler Freiheiten, die Unterdrückung jeder Opposition, die Ermordung politischer Gegner, die Zentralisierung des russischen Staates, die Gleichschaltung der Medien, die destruktive Einflussnahme in westlichen Ländern – all dies zeigt schon lange, dass es dem Regime keinesfalls um Zusammenarbeit oder Annäherung geht. Die Radikalisierung der russischen Politik begann spätestens 2004 mit der orangenen Revolution in der Ukraine. Der russische Präsident scheint von einer Angst vor dem Aufstieg demokratischer Oppositionsbewegungen im eigenen Land und in den als russische Einflusssphäre begriffenen Nachbarländern getrieben, immer kombiniert mit der Verschwörungserzählung, hinter allem steckten westliche Geheimnisse. Das Putin-Regime strebt mit hybrider Kriegsführung, massiver Propaganda, den massiven Interventionen in Georgien, Kasachstan, Belarus, Syrien und schließlich in der Ukraine die Revision der weltweiten Verhältnisse zugunsten einer neuen Großmachtstellung Russlands an.

Wer noch immer irgendetwas von Nato-Erweiterungen (die von Russland, als sie anstanden, nicht abgelehnt wurden), den USA als Ursache der Konflikte oder einem Ende der Sanktionen schwadroniert, hat die Realität noch immer nicht verstanden und verbreitet letztlich russische Narrative. Russisch kontrollierte Medien wie Rubikon, Sputnik, RT und solchen verschwurbelten Seiten wie den Nachdenkseiten dienen einer nicht geringen Anzahl sogenannter Linker noch immer als einzig zuverlässige Quellen. Viele merken noch nicht einmal, wie sie osteuropäische Staaten im Baltikum, der Ukraine und andere zur passiven Verhandlungsmasse degradieren, zu Pufferzonen erklären und ihnen eine selbstbestimmte Außenpolitik absprechen. Es ist arrogant und selbstgefällig.

Man kann, ja man muss das Handeln von NATO-Staaten wie der Türkei in den kurdischen Gebieten kritisieren, man muss eine klare Haltung zu den Protesten im Iran einnehmen, man muss das Regime in Saudi-Arabien kritisieren, man muss die Interventionen der USA beispielsweise im Irak kritisch hinterfragen. Nichts davon kann aber als Argument gelten, dem Handeln von Putins Russland „Verständnis“ entgegenzubringen. Ich kann dieses „Ja, aber … die Nato, die USA“ nicht mehr ertragen.

Führungsfiguren der Linken halten an einer geradezu grotesken Solidarität mit Russland fest. Nicht mal jetzt, während des klar völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine, jetzt, wo sich gut dokumentierte Berichte von Folterkellern und Massengräbern in der Ukraine häufen, Hunderttausende gewaltsam vertrieben und zivile Infrastruktur gezielt zerschossen wird, rücken Parteifunktionäre von ihrer verblendeten Russland-Sympathie ab. Von nicht wenigen kommt kein Wort des Bedauerns, keine Verurteilung, keine Positionierung, nichts. Stattdessen sinnlose Diskussionen um die Nordstream-Pipelines und ein Ende der Sanktionen.

Es ist moralisch verkommen und einfach nur noch widerlich.

8. Die Selbstgerechte

Auch Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“ soll hier nicht unerwähnt bleiben. Kurz vor der vergangenen Bundestagswahl fällt Wagenknecht nichts Besseres ein, als Teile des linken Wählerpotenzials nieder zu machen. Daneben die zum Scheitern verurteilten Versuche, Zustimmung zur Linken erzeugen zu wollen, indem man Teile der Partei diskreditiert, der durchsichtige Versuch AfD-Wähler zurückgewinnen zu wollen, indem man AfD-Positionen legitimiert. Es geht Wagenknecht mit ihrer Polemik, groben Vereinfachungen und Widersprüchen einzig um ihre eigene Profilierung – auf Kosten unserer Partei. Die Ablehnung von Initiativen, die sich um Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit, Klimaschutz bemühen, die Diffamierung gesellschaftlicher Gruppen als „skurrile Minderheiten“ – all das ist das Gegenteil von verbindender Klassenpolitik.

Wagenknecht ist eine Populistin, deren verkürzte Kritik an Kapitalismus und EU sich auf das verklärte Bild einer sozialdemokratisch organisierten Bundesrepublik der Vergangenheit fokussiert – ethnisch homogen und nationalstaatlich beschränkt. Ihr Denken weist in eine Vergangenheit, die so nie existiert hat. Und damit bildet sich eine Schnittmenge mit rechtspopulistisch agitierenden Organisationen, die das ganze romantisierte Vergangenheitsbild dazu freilich noch völkisch und rassistisch aufladen.

Es ist bekannt, dass Wagenknecht weder Wahlkreisarbeit noch Parlamentarismus wirklich ernst nimmt. Sie fehlt oft auf Fraktionssitzungen. Auch auf Parteitagen, an denen ich als Delegierter teilnahm, traf Wagenknecht in der Regel erst kurz vor ihrer Rede ein – flankiert von Bodyguards, um dann direkt im Anschluss wieder zu verschwinden. Ich unterstelle, dass Wagenknecht so gut wie keinen Kontakt zu den angeblich von ihr vertretenen und angesprochenen Milieus hat, dass Wagenknecht seit Jahren nicht mit dem öffentlichen Nahverkehr unterwegs war oder jemals miterlebt hat, was es bedeutet, wenn eine Pflegekraft um 6 Uhr früh zum Dienst antritt. Statt Zugänglichkeit, Diskussionsbereitschaft oder Basisnähe entsteht in einer Villa im Saarland vermutlich gerade das nächste polemische Buch.

Wagenknecht unterstellt dem, von ihr vermeintlich angesprochenem, Milieu mit den Debatten der heutigen Zeit nicht mithalten zu können. Geradezu grotesk unterschätzt sie dabei die vielfältige, multikulturelle Erfahrungswelt vieler Menschen. Sie sieht nicht, dass viele dieser Menschen ein gutes Gespür für Ungerechtigkeiten, Benachteiligung und Diskriminierung haben. Sie ignoriert bewusst, dass auch queere, migrantische oder anderweitig zu angeblich „skurillen Minderheiten“ gehörige Menschen Mieter*innen und Arbeiter*innen sind, auf anständige Bezahlung, den ÖPNV, erträgliche Energiepreise oder was auch immer angewiesen sind. Stattdessen spricht sie ausschließlich die Kartoffeln an, die uns sowieso nicht wählen würden – und bestärkt diese auch noch.

Screenshot Twitter.

Und zur Krönung des ganzen schwadroniert sie nun auch noch von einem angeblichen links-liberalen Totalitarismus, von Denk- und Sprechverboten. Freilich tut sie dies jede Woche in zahlreichen Printmedien, im TV, in den sozialen Medien – ohne den inneren Widerspruch dieser Aussage auch nur ansatzweise wahrzunehmen.

Als logische Konsequenz aus diesem Denken hat Wagenknecht inzwischen die Grünen als Hauptfeind ausgemacht. Die immer offener rechtsextrem agitierende AfD, die im Bündnis mit rechtsextremen Organisationen und Personen jeder Art eine mindestens profaschistische Bewegung etabliert, nicht als existenzielle Gefahr für Grundrechte, Demokratie und jeden progressiven Fortschritt zu begreifen, ist gerade zu absurd. Und zumindest, was die Regierungskoalition betrifft, sind es doch Lindner, Kubicki und die FDP, die immer wieder jeden auch noch so kleinen sozial-politischen Fortschritt torpedieren. Aber nein, die Grünen sind das Problem. Deren Jugendverband erscheint mit inzwischen als deutlich fortschrittlicher als Die Linke.

Wagenknecht und ihre Clique – Sie schauen auf uns herab. Auf uns, die auf lokaler Ebene versuchen, etwas zu bewegen, in Auseinandersetzungen gehen und Bündnisse aufbauen, die sich Anfeindungen und Bedrohungen ausgesetzt sehen, die Woche für Woche zu sehen bekommen, welche Kräfte Wagenknecht und ihre Clique stärken. Sie sind die Selbstgerechten, die keine Meinung neben der ihren akzeptieren oder auch nur ertragen können, sie sind die Autoritären, die nicht aushalten Kritik und breiten Widerspruch zu erfahren, sie sind es, die spalten und Minderheiten gegeneinander auszuspielen versuchen. Und man lässt es zu.

9. Der Kreisverband

Seit mindestens 10 Jahren wundert man sich hier vor Ort, warum es nicht gelingt, neue Mitglieder zu gewinnen. Inhaltliche Arbeit findet kaum noch statt. Man ist mit Organisatorischem und mit sich selbst beschäftigt und damit, an überkommenen Strukturen, die kaum noch arbeitsfähig sind, festzuhalten. Der Verband ist hoffnungslos überaltert – so wie auch die Ansichten nicht weniger Mitglieder.

Bei zivilgesellschaftlichen Aktionen, wie Demonstrationen gegen Nazis, Aktionen für Geflüchtete, Fridays for Future oder zuletzt Protesten gegen die sogenannten Querdenker*innen positioniert sich kaum jemand wahrnehmbar. Und manchmal war ich da auch eher froh drüber.

Die ehemalige Kreisvorsitzende lief stattdessen mit AfD-Funktionären bei den sogenannten Spaziergängen in Weida mit. Man solidarisiert sich in großer Mehrheit mit Sahra Wagenknecht. Manche behaupten, alles, was nicht in der „jungen Welt“ steht, sei westliche Propaganda. Manche leugnen Butscha. Verschwörungsmentalität, insbesondere wenn es um die Presse geht, verschwurbelter Anti-Amerikanismus, das Belächeln von sexueller Übergriffigkeit, Diskussionen gegen geschlechtergerechte Sprache, die Liste politische Zumutungen von Teilen dieser Linken hier vor Ort ist lang.

Die traditionelle Kundgebung zum Tag der Befreiung am 08. Mai in diesem Jahr brachte dann für mich das Fass endgültig zum Überlaufen. Die Linke hier vor Ort traf sich wie üblich auf dem alten Friedhof am Mahnmal. Trotz des Krieges mit dabei: die völlig abgedrehten Alt-Stalinisten vom sogenannten „Freidenker“ Verband. Und die brachten eine Sowjet-Fahne mit und rechtfertigten den russischen Angriffskrieg. Als Bonus bot man Evelina Polyakova vom russischen Generalkonsulat eine Bühne. Die russische Abgesandte trug ein Sankt-Georgs-Band, ein Symbol der Unterstützung von Putins Politik. Polyakova stellte den Ukrainekrieg in die sowjetische Tradition des Kampfes gegen Faschismus.

08. Mai 2022 – Tag der Befreiung in Greiz – Screenshot Facebook

Ich habe dort dieses Jahr bewusst nicht teilgenommen, ahnend, was da kommt, und stattdessen an einer alternativen Kundgebung mit einigen antifaschistisch Aktiven teilgenommen.

Für mich gibt es mit diesem Kreisverband keine Zukunft. Zu lange habe ich ausgehalten, diskutiert, argumentiert, manchmal auch die Beherrschung verloren. Ich kann, will und werde dort nicht weitermachen.

10. Die Lage der Partei

Die LINKE wird sich spalten. Ja sie MUSS sich spalten. Sonst setzt sich der schon lange laufende Prozess des langsamen Zerbröselns fort, bis nichts mehr übrig ist. Die Austritte bekannter Linken-Politiker*innen wie z.B. Ulrich Schneider, etlicher, guter Leute aus den Jugendverbänden, der offene Brief der drei Linken-Politikerinnen Jule Nagel, Katharina König-Preuss und Henriette Quade, die permanenten Streitigkeiten, und die permanenten Angriffe auf Partei, Programm und Grundsätze durch Wagenknecht, Dagdelen, Ernst und andere, lassen nichts anderes mehr zu.

Das Wagenknecht-Lager ist längst dazu übergegangen, den seit Gründung der Partei bestehenden Streit so zu eskalieren, dass es mit einem großen Knall die Partei verlassen kann – das Nichthandeln von Schirdewan und Wissler, der Opportunismus der sogenannten Reformer um Bartsch lässt es zu, dass dabei möglichst viel verbrannte Erde hinterlassen wird.

Was also käme nach der Linken? Wahrscheinlich zwei Wahlvereine – ein Rest der Linken und eine national-soziale Liste Wagenknecht – die am wahrscheinlichsten beide in der Versenkung verschwinden. Menschen einbinden, in einen Diskurs gehen, gemeinsam etwas aufbauen, all diese Dinge, die es braucht, um etwas Neues aufzubauen, beherrscht Wagenknecht in ihrem Elfenbeinturm nicht. Noch nie hat sie mit anderen eine Kampagne aufgebaut oder auch nur produktiv begleitet. Eine allein für sie maßgeschneiderte Top-Down-Wahlliste, für die die Leute nur ihre Stimme abgeben müssen, das könnte vielleicht funktionieren, wäre aber im Kern autoritär und würde den Diskurs insgesamt nach noch weiter nach rechts verschieben.

Die positivste Option wäre das Scheitern einer Liste Wagenknecht und der Aufbau einer neuen, linken Partei. Eine, die Widersprüche nicht nur verdeckt und um jeden Preis Zusammenhalt vorgaukelt, sondern Konflikte löst, sich von regressiven Strömungen, Traditionalisten und anderem Geschmeiß lossagt, die mit Bewegungen und Initiativen nicht nur punktuell zusammenarbeitet, sondern sich als Teil dieser begreift.

Mir tut es leid um die vielen aufrechten, anständigen Menschen, die sich seit Jahren den Arsch aufreißen. Martina Renner, Katharina König-Preuß, Jule Nagel, Kerstin Köditz, Petra Pau, Henriette Quade, Klaus Lederer, Katja Kipping, Caren Lay… und so viele mehr. Ja, man muss Widersprüche aushalten, ab und zu auch mit eigenen Ansichten einen Schritt nach hinten treten, die eigene Vorstellung immer wieder hinterfragen – solange nur wenigstens die grundsätzliche Richtung stimmt. Ich aber sehe in dieser Partei keine Perspektive mehr. Weder für mich, noch für die Partei als solche.

Bildquellen

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